
Das sich mit fortschreitendem Alter das subjektive Zeitgefühl beschleunigt oder bei Angstempfindungen verlangsamt [1] , ist nicht nur eine gefühlte Beobachtung, sondern wissenschaftlich belegt [2] . Mögliche Gründe hierfür können sein, dass mit ansteigendem Alter wenig neue Erfahrungen gemacht werden und es damit zu einer Routine-Entwicklung kommt. Ebenso sinkt im Allgemeinen der Dopaminspiegel, was eine veränderte Wahrnehmung der Zeit zur Folge hat. Angstempfindung hingegen führt zu einer stärkeren Gedächtnisbildung, welche sich dann in einer verlangsamten Zeitwahrnehmung ausdrückt. [3]
Die letzten 5 Monate - oder gar die letzten 5 Jahre - verflogen für mich rückwirkend betrachtet, gänzlich. In den letzten 5 Jahren war ich gezwungen, mich vielen persönlichen Dämonen zu stellen, die zwar ein mir bekanntes, aber von mir nur schwierig beeinflussbares Dasein in meinem Leben etabliert hatten. In den letzten 5 Monaten, nachdem ich mein Studium im Herbst letzten Jahres unterbrochen hatte, war ich damit beschäftigt, in der zweitgrößten Stadt Deutschlands (aber der schönste Stadt der Welt!) eine neue Wohnung zu finden.
Beide Zeitabschnitte für sich haben sich, als sie akut waren, aussichtslos angefühlt, gar perpetuell. Jeder Rückschlag, egal ob in Form eines Rückfalls oder in Form unzähliger Wohnungsbewerbungen, die unbeantwortet blieben, führte sie mir die Schwierigkeit meiner Situation immer wieder empfindlich vor Augen - gerade ein Rückfall dezimierte häufig sämtlichen Fortschritt, den ich über Monate bis dahin aufgebaut hatte.
In beiden Fällen kam die Verbesserung schließlich plötzlich.
Meine Abstinenz fußte 2023 zunächst auf dem off-label verschriebenen ADHS Medikament Guanfacine, mit welchem es gelang eine Stabilität zu etablieren die mir mittelfristig half auch ohne das Medikament keinen Alkohol (oder anderes) zu konsumieren. Die Zusage für eine Wohnung und die anschließende Vertragsunterzeichnung sowie Schlüsselübergabe, ergab sich vor einer Woche, bin 5 Tagen, nachdem ich morgens eine Einladung zur Besichtigung am Nachmittag erhielt.
Da der Druck - die Existenzangst - nun abgefallen und die Ungewissheit meiner kurzfristigen Zukunft sich aufgeklärt hat, wird mir plötzlich bewusst, wie viel Zeit eigentlich vergangen ist, seitdem ich wirklich ehrlich, angstfrei, zuversichtlich und vor allem (gesund) selbstbewusst in die Zukunft geblickt habe.
Mein Leben wird sich fügen, meine teilweise turbulenten Lebenswege mit Höhen und Tiefen, sind erklär- sowie beleg- und darüber letztlich argumentierbar. Everything will fall into place.

Der größte Saboteur meines Lebens bin am Ende unfreiwillig ich selber gewesen. Den Hauptaspekt dieser dysfunktionalen Lebensweise habe ich nun unter Kontrolle. Ja, trotz Abstinenz bin ich zunächst nicht in der Lage gewesen, mein Studium abzuschließen. Das muss ich akzeptieren. Das ist nicht schlimm. Der Schritt der Exmatrikulation war notwendig, um mich zurückzusetzen, um mich neu zu orientieren und um negative, sich ständig wiederholende Schleifen zu brechen, die ansonsten drohten, die Gesamtstabilität zu gefährden.
32 Jahre alt bin ich heute geworden. Doch wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich nicht nach dem Alter, welches diese Zahl abbildet. Die letzten 5 Jahre wirken plötzlich nicht mehr wie die Zeit, die mich fast zugrunde gerichtet hat, wie der endlose Tunnel aus Schwärze und Schmerz, sondern wie ein paar Wochen, höchstens ein paar Monate mit leicht depressiven Verstimmungen. Verrückt.
Trotz der Schwierigkeiten habe ich in den letzten Jahren sehr viel über mich selbst lernen können, konnte dank dieser Selbsterkenntnisse, der richtigen Diagnosen und Therapie eigenständig die notwendigen Strukturen etablieren, die mich nun aktuell stabil zu halten vermögen.
Das hab ich auf höherer Ebene selbstverständlich nicht alleine geschafft. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle bei all den Menschen bedanken, die mich auf diesem Weg unterstützt haben und auch weiterhin ein Teil von diesem sind.
Der Weg ist noch lange nicht abgeschlossen, dennoch gelang es mir mit Abstand vieles zu reflektieren, zu verstehen, mein Verhalten und meine Ansichten nachzujustieren und damit habe ich einen neuen Blickwinkel auf den Beginn und den Verlauf der - auf so vielen Ebenen tragischen - manische Episode Anfang 2020 bekommen - deren Ursprung aber deutlich weiter zurückliegt als 2020.
Viele Menschen, die mir familiär nahestanden und die mir helfen wollten, habe ich in der Phase damals verletzt, gekränkt und an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben. Aber auch andere, nicht aus meinem familiären Kreis stammende Menschen habe ich verbal beleidigt, erniedrigt und mich über sie lustig gemacht. Dabei habe ich aus einem fehlgeleiteten existenziellen Selbstschutz heraus agiert, welcher gepaart war mit einem unbegründeten, exorbitant psychotischen Selbstvertrauen.
Ich kann mein Verhalten von damals nicht rückgängig machen, nur immer wieder versuchen, um Entschuldigung zu bitten.
Ein Ansatz den ich verfolgen werden, welchen ich jedoch im großen Ganzen verordne, ist mein Wunsch nach Aufklärung und Bewusstseinsbildung zum Thema Neurodivergenz. Sowohl für Angehörige als auch für Betroffene. Dieses Credo habe ich bereits bei der Erschaffung dieses Blogs formuliert. Mein Wunsch wäre mit einer steigenden Sensibilisierung für den Kontext, die Anzahl von (zu schnell) getroffenen Fehldiagnose und damit die Verordnung von womögliche falscher Medikation zu reduzieren. Denn gerade bei Individuen, die in ihrer Kindheit keine Diagnose erhalten haben, steigt mit fortschreitenden Alter das Risiko auf die Entwicklung von Komorbiditäten, welche dann in Kombination mit erlernten adaptiven Verhalten und Bewältigungsstrategien eine korrekte Diagnose im Verlauf des Lebens erschwert. [4]
Mir sind dabei die eigenen Defizite in meinen Exekutivfunktionen und mein wechselhaftes Interesse an Themen durchaus bewusst, deshalb werde ich mich zunächst abseits von gelegentlichen Blog Posts zu dem Thema nicht auf weitere konkrete Schritte festlegen. Denkbar sind diese aber allemal.
Wichtig für mich ist das meine Ausrichtung stimmt und der Weg kontinuierlich weiter abgeschritten wird.
Denn ein elementarer Lerneffekt der letzten Jahre für mich war die Erkenntnis, mich nicht mehr mit meinen Peers zu vergleichen. Das ist nicht zielführend. Das bringt keinen Mehrwert. Das ist destruktiv.
Losgelöst von gesellschaftlichen Erwartungen und Normen, werde ich meinen Platz in dieser Welt finden. Frei nach Felix Martin Andreas Matthias Blume: "Jeder von uns hat die Aufgabe, rauszufinden: Was ist seine Aufgabe?".